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Ich und der Spiegel Nerhegeb

von Colophonius Regenschein

Seufzend schaute Colophonius auf die Uhr. Mist, es war schon kurz vor acht und er hatte immer noch keine Idee für den Unterricht, der in ein paar Minuten beginnen würde. Innerlich fluchend schalt er sich selbst, weil er gestern Abend mal wieder statt sich um den Unterricht zu kümmern bei Louis zu einer Tasse Tee vorbei gekommen war und mit ihm über belanglose Themen geplaudert hatte. Obwohl, so belanglos fand er sie gar nicht, reichten sie doch von ihren Teesortenvorlieben bis hin zu den wichtigen Dingen des Lebens. Bei diesen Gedanken starrte Colophonius den großen, goldumrandeten Spiegel im Lehrerzimmer an. Spiegel waren schon eine tolle Sache, dachte er.

Sie spiegeln die Wirklichkeit wieder und doch gibt es so viele Geschichten in denen sie eine ganz andere Funktion inne haben. „Spieglein, Spieglein an der Wand.“ Während er das so vor sich hin murmelte und einen erstaunten Blick von Xaros erntete, der seinen Kollegen mit intensivem Blick in den Spiegel starrend und die berühmten Worte aus Schneewittchen rezitierend neben sich sitzen hatte, fiel bei Colophonius der Groschen. „Genau, das ist es!“ Schnell sprang er auf, hastete aus dem Lehrerzimmer und während die Tür sich schloss, schaute Xaros ihm mit verwundertem Gesichtsausdruck hinterher.



Derweil läutete es zur ersten Stunde und mit einem Lächeln auf den Lippen betrat Colophonius das Klassenzimmer und sah die versammelte Schülerschar an. „Einen wunderschönen guten Morgen allerseits“, begrüßte er sie fröhlich. „Heute werden wir einen kleinen Exkurs machen. Und zwar geht es um den Spiegel Nerhegeb, von dem ihr sicher schon einmal gehört habt.“ Colophonius erntete zum zweiten Mal an diesem Morgen erstaunte Blicke, da dies wenig mit dem eigentlichen Unterrichtsstoff zu tun hatte. Doch er fuhr unbekümmert fort: „Der Name des Spiegels bedeutet spiegelverkehrt 'begehren'. Er zeigt euch also nicht die Wirklichkeit, sondern euren sehnlichsten Wunsch. Dass, was ihr am allermeisten begehrt. In dieser Stunde möchte ich, dass ihr euch überlegt, was ihr wohl sehen würdet, wenn ihr in den Spiegel schaut. Ihr könnt es laut sagen oder auch aufschreiben, wie ihr möchtet.“ Gespannt beobachtete er die Reaktionen der Schüler. War es ein Fehler gewesen oder würden sie darauf eingehen? Schließlich war es ein sehr ungewöhnliches und auch sehr heikles Thema. Zu seiner Erleichterung sah er, dass die meisten Schüler sich Gedanken zu machen schienen. Während er sich noch über seine gute Idee freute, räusperte sich ein Mädchen. „Herr Professor! Ich glaube ich weiß, was ich sehen würde: Meine Familie und Freunde wie sie ein glückliches und gesundes Leben haben werden.“ Ein verträumter Gesichtsausdruck folgte dieser Aussage. „Ich möchte meinen Schwarm einmal treffen. Das ist mein größter Wunsch“, kam da sofort die Stimme eines anderen Mädchens, worauf der Junge neben ihr den Kopf schüttelte. „Einen Star treffen würde ich nicht wollen. Das ist einfach zu wertlos. So eine Schwärmerei geht sowieso schnell vorbei.“ „Ach ja? Und was wünscht du dir dann, du Schlaumeier?“ Der Junge dachte nach. „Ich hab echt keine Ahnung was ich sehen würde, wenn ich in diesen Spiegel schauen würde... einen richtigen Herzenswunsch habe ich eigentlich nicht so wirklich. Aber wenn es darum geht, dass ich einen Wunsch frei habe, dann würde ich mir einfach wünschen, dass ich unendlich viele Wünsche frei habe“ Er grinste. „Nein, nein. Hier geht es doch nicht darum, dass man einen Wunsch frei hat, sondern, seinen persönlichen Herzenswunsch zu äußern“, erwiderte ein Mädchen. „Also meiner ist, in einem großen Haus auf dem Land zu leben mit einem lieben Mann und vielen Kindern. Vielleicht noch einen kleinen Laden zu besitzen. Das wäre mein größtes Glück.“

Einige Jungen rollten theatralisch mit den Augen und einer stand auf und sagte anklagend: „ Und warum wünscht sich hier keiner wichtige Dinge wie Frieden auf dieser Welt? Oder die Vernichtung von schlimmen Krankheiten? Schade, dass einige hier nur an sich denken.“

„Ja“, begehrte auch ein anderer auf „ich würde mir ewige Gesundheit für alle wünschen.“

„Das glaube ich kaum, dass du das machen würdest. Eigentlich denkt doch jeder auch noch so intelligente und soziale Mensch bei so etwas zuerst an sich“, konterte das Mädchen.

„Und wie soll das im Spiegel überhaupt aussehen? Weltfrieden und allgemeine Gesundheit und so? Eine weiße Taube vielleicht?“ fragte ein Junge weiter hinten ironisch.

„Langsam, langsam. Ihr kommt dem Punkt schon ganz nahe“, mischte sich nun Colophonius ein. „Denn genau darum geht es bei diesem Spiegel. Was man begehrt, nicht, was für die Welt am besten wäre. Sicher hat man edle Wünsche wie Frieden, aber das ist nicht gleichbedeutend mit dem, was wir uns am meisten wünschen. Wenn ich drei Wünsche oder mehr frei hätte, würde ich vielleicht so etwas wünschen. Aber man ist, wenn man nur einen Wunsch hat, meist doch sehr egoistisch. Und da kann man jetzt sagen, was man will“, er lächelte, „der Versuchung, sich selbst ein schönes Leben zu machen, muss man erst einmal widerstehen.“

Darauf folgte zustimmendes Gemurmel und Colophonius fuhr fort: „Aber hier geht es ja nicht um Wünsche, sondern um das, was man begehrt. Also um unser größtes Glück. Aber wie sieht Glück aus? Ich glaube, dass wir das gar nicht so genau wissen können, und somit sieht man nur die Dinge in dem Spiegel, die einem als das größte Glück erscheinen. Aber diese Vorstellung kann sich ändern, so wie sich unsere Vorlieben und wir selbst uns auch ändern können. “

„Ja, genau“, rief sofort ein Mädchen überzeugt. „Ich glaube nicht, dass ich meinen Herzenswunsch kenne. Ich glaube ihn zwar zu kennen, aber ich denke das der Herzenswunsch tief im Unterbewusstsein steckt.“

Lächelnd nickte Colophonius ihr zu. „Ich denke, ihr habt den Punkt verstanden. Leider ist die Stunde nun fast zu Ende. Schreibt bitte bis nächste Woche eure persönliche Meinung dazu auf. Sie kann auch von meiner abweichen. Das nächste Mal machen wir mit dem regulären Unterrichtsstoff weiter.“ Darauf folgte ein allgemeines Stöhnen und die Schüler verließen nach einander das Klassenzimmer.



Colophonius saß noch eine Weile so da und dachte über die Argumente seiner Schüler nach.

Ja, jeder strebte nach seinem persönlichen Glück. Doch irgendwie wünschte er sich fast, er könnte in den Spiegel blicken und nichts sehen. Denn ist es nicht viel schmerzhafter, etwas zu sehen, das man nicht haben kann, es direkt vor der Nase zu haben und nicht danach greifen zu können?


Colophonius Regenschein

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